Alter gestalten
Juli 2020
Das Magazin widmet sich dem Schwerpunkt «Alter gestalten» und behandelt verschiedene Aspekte wie Demenz und Gewalt gegenüber Betagten. Es werden Angebote für Gemeinden vorgestellt, um ältere Menschen zu stärken. Zusätzlich werden die Themen Homeoffice, Umgang mit Angst und Freiwilligenarbeit aufgegriffen.
- Dem Vergessen zuvorkommen
- Überforderung begünstigt Gewalt
- Ältere Menschen stärken
- Ist Homeoffice gesund?
- Umgehen mit Angst
- Interview mit Theo Wehner über Freiwilligenarbeit
- Freiwillige erzählen
Dem Vergessen zuvorkommen
Dank technischer Fortschritte gelingt es heute Alterungsprozesse im Gehirn besser zu verstehen und damit Vorstufen von Demenz oder Alzheimer schon früh zu erkennen. Neue Studien legen zudem nahe, dass ein gesunder Lebensstil eine präventive Wirkung hat.
Text: Paul G. Unschuld
Traditionellerweise wird abnehmende Gedächtnisleistung, sowie im Extremfall die Entwicklung einer Demenz, als Teil des unvermeidlichen, normalen Alterungssprozesses gesehen. Die Tatsache, dass es grosse Unterschiede gibt, wie sich Gedächtnisleistung im Alter entwickelt sowie die Beobachtung von einzelnen Personen, welche bis ins höchste Alter im Vollbesitz ihrer kognitiven Fähigkeiten sind, wurde üblicherweise als glückliche Fügung des Schicksals interpretiert. Lange Zeit wurden Erkrankungen wie Alzheimer als unvermeidlicher Preis für das Erreichen eines hohen Lebensalters sowie als Konsequenz der individuellen genetischen Prädisposition betrachtet.
Verbesserte Diagnostik
In den letzten zwanzig Jahren gelang es durch bahnbrechende Fortschritte in der diagnostischen Technologie, pathologische Alterungssprozesse des Gehirns bei Patienten zu Lebzeiten abzubilden und auf diese Weise den Zusammenhang mit teilweise leicht beeinflussbaren Lebensumständen besser zu verstehen. Die Entwicklung von Kernspintomographie-Sequenzen zur Darstellung von Veränderungen kleiner Blutgefässe half zu verstehen, wie deren unbeeinträchtigte Funktion mit dem Funktionieren verschiedenster Gruppen von Nervenzellen im menschlichen Gehirn zusammenhängt. Während ausgedehnte Hirninfarkte zu offensichtlichen neurologischen Ausfällen führen, wissen wir heutzutage, dass es die Veränderungen der kleinen Blutgefässe im Gehirn sind, welche zu langsam fortschreitenden Einbussen der kognitiven Leistungsfähigkeit führen können. Unbehandelter langjähriger Bluthochdruck kann diese kleinen Blutgefässe im Gehirn schädigen. Eine aktuelle Studie von Din et al. mit 31’090 Teilnehmern zeigt: Die konsequente Behandlung von Bluthochdruck kann das Risiko, im höheren Lebensalter an Demenz zu erkranken, deutlich senken.
Proteine als Vorboten
Ein anderes Verfahren ist die Positronenemissionstomographie (PET), die es erlaubt, durch die Infusion einer kurzlebigen, leicht radioaktiven Flüssigkeit, Veränderungen auf Molekülebene sichtbar zu machen. Die Entwicklung dieser radiopharmazeutischen Tracer und Fortschritte in der nuklearmedizinischen Diagnostik ermöglichen die Darstellung verschiedenster krankhaft veränderter Proteine und Strukturen. Dazu gehört das Protein Amyloid beta, welches typisch für die Alzheimererkrankung ist. Mithilfe moderner PET Tracer kann auch das Protein Tau abgebildet werden, welches bei Alzheimer und auch anderen neurodegenerativen Erkrankungen auftritt. Äusserst ermutigend sind auch die Fortschritte in der Blutanalyse. So ist es gelungen, von peripher im Blutserum messbaren Proteinen verlässlich auf pathologische Veränderungen im Gehirn wie z.B. das Ausmass von Alzheimerpathologie oder die Schädigung von Nervenfasern zu schliessen.
Früh behandeln
Durch den Einsatz dieser Technologien konnte gezeigt werden, dass degenerative Erkrankungen des Gehirns wie Alzheimer durch jahrelang andauernde präklinische Phasen gekennzeichnet sind. In diesem sehr frühen präklinischen Stadium verändert sich das Gehirn. Trotz teilweise deutlich nachweisbarer Amyloid beta und TauKonzentrationen oder veränderter Blutgefässe treten aber noch keine kognitiven oder anderen Beschwerden auf. Es herrscht Konsens, dass diese präklinische Phase eine ausserordentlich erfolgsversprechende Gelegenheit für therapeutische und präventive Interventionen darstellt. Es ist das Ziel solcher Interventionen, die Entwicklung schädlicher Veränderungen im Gehirn derart zu verlangsamen, dass das Ausmass von Erkrankungen wie Alzheimer niemals über das Stadium der präklinischen Phase hinausgeht. Medikamentöse Behandlungen verfolgen das Ziel, gesundheitsschädigende Eiweisse wie z.B. Amyloid beta direkt zu entfernen. Trotz einiger Fehlschläge gibt es klinische Versuche mit vielversprechenden, vorläufigen Ergebnissen. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es allerdings noch kein für den Markt zugelassenes Präparat, welches das Fortschreiten krankheitsbedingter Gehirnveränderungen aufhalten könnte.
Risiko aktiv senken
Deutlich weiter ist man bei nichtmedikamentösen präventiven Ansätzen: Ermutigende Ergebnisse von verschiedenen epidemiologischen Studien legen nahe, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen gesunder Lebensführung und Demenzrisiko. Hier sind es «Lifestylefaktoren» und – eigentlich seit langer Zeit bekannte – gesunde Verhaltensweisen, welche das individuelle Risiko, an Demenz zu erkranken, deutlich reduzieren können. Zum Beispiel ausreichend körperliche Aktivität, ausreichend Schlaf, die sogenannte mediterrane Diät, Verzicht auf Nikotinkonsum sowie ein aktiver Lebensstil mit einem hohen Grad sozialer und intellektueller Betätigung. In den Studien wurde ein positiver Effekt solcher gesunden Verhaltensweisen ab einem Alter von etwa 50 Jahren nachgewiesen. Auch technische Unterstützung, wie zum Beispiel die Versorgung mit einem funktionsfähigen Hörgerät, kann einen wichtigen Beitrag liefern, um älteren Menschen soziale Interaktion, Aktivität und Lebensfreude zu ermöglichen.
Wichtig ist auch der Zugang zu einem modernen, leistungsfähigen Gesundheitssystem, mit der Möglichkeit alterstypische Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes oder Depressionen frühzeitig und wirksam behandeln zu können. Verschiedene aktuelle Studien legen nahe, dass durch konsequente Umsetzung all dieser Massnahmen nicht nur der allgemeine Gesundheitszustand verbessert, sondern auch das Demenzrisiko deutlich reduziert werden kann.
Neue Studien
Die Wirksamkeit präventiver Verhaltensmassnahmen wird insbesondere durch kürzlich publizierte Arbeiten wie «Association of Lifestyle and Genetic Risk With Incidence of Dementia» von Lourida et al. (2019) unterstrichen, die zeigen, dass ein gesunder Lebensstil auch bei Personen mit erhöhtem genetischen Alzheimerrisiko die Wahrscheinlichkeit an Alzheimer zu erkranken deutlich senken kann. Ähnlich die letztjährige Studie von Xu et al., welche zeigt, dass Lifestylefaktoren wie hohe soziale und kognitive Aktivität und Vermeidung von Übergewicht das individuelle Demenzrisiko deutlich senken können, selbst wenn typische Gehirnalterspathologien vorhanden sind. Epidemiologische Übersichtsarbeiten stimmen hoffnungsvoll: Innerhalb der letzten 20 Jahre ist die altersbezogene Auf tretenswahrscheinlichkeit von Demenz in Westeuropa und Nordamerika um etwa 20 Prozent gefallen (Livingston et al., Lancet, 2017 und Matthews et al., Nature Communications, 2016). Die Autoren erklären diese erfreuliche Entwicklung mit einer Veränderung von Lifestylefaktoren hin zu einem gesünderen Lebensstil inklusive bewusster Ernährung.
Die konsequente Umsetzung dieser Erkenntnisse erfordert auf individueller Ebene Motivation und auch die Zuversicht, dass man etwas tun kann, um sein persönliches Demenzrisiko zu verbessern. Es liegt nun an den behandelnden Ärzt*innen und Therapeut*innen, ihren Patient*innen diese neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu vermitteln, um so – eigentlich altbekannte – gesunde Verhaltensweisen zu fördern.
PD Dr. med. Paul G. Unschuld
Leiter Zentrum für dementielle Erkrankungen
und Altersgesundheit
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
www.pukzh.ch